Was für ein Durcheinander! In Gioachino Rossinis letzter italienischer Oper den Durchblick zu behalten, ist gar nicht einfach. In der Fülle von insgesamt achtzehn Rollen sind jedenfalls die einzelnen markant gezeichneten Charaktere sehr viel schneller greifbar als ihre gründlich verknoteten Beziehungen untereinander. Auf der Durchreise versammelt sich in einem Kurhotel in der französischen Provinz eine bunte, exaltierte Gesellschaft, angereist aus allen Ecken Europas. Doch Pferdemangel verhindert die geplante Weiterreise zur Krönung Karls X. nach Reims, so dass man sich – wohl oder übel – als Schicksalsgemeinschaft an dem Ort einzurichten versucht. Dabei sind es nicht nur die ausgeprägten kulturellen Eigenarten, die ein harmonisches Zusammensein erschweren; auch im Zwischenmenschlichen wogen bald die Leidenschaften, und die amourösen Verquickungen zeigen sich – zumal sie die Zweisamkeit gern überschreiten – herzlich unübersichtlich.
Wir üben den Stillstand
Als Herausforderung für die Regie kommt hinzu, dass Rossinis virtuose Gesangsnummern entschieden mit der aufgeregten und kurzatmigen Szenendramaturgie kontrastieren. Dominique Menthas Abschiedsinszenierung weckt denn auch zweierlei Gefühle. Zum einen besticht das Stück in Luzern tatsächlich nicht durch besondere dramaturgische Dichte. Die Dynamik, die ein von allen Seiten einströmender Chor voller kruder Clowns und die quirlige Maddalena Marie-Luise Dressens gleich zu Beginn erzeugen, ebbt schon in der ersten Arie der Madame Cortese wieder ab. Das liegt keineswegs an der souveränen Leistung von Teodora Gheorghiu, die ihre Partie im ganzen Stück fein ausgestaltet, sondern daran, dass die ganze Personnage unter dem Eindruck ihres hellen Soprans plötzlich den Stillstand übt und nur noch zuzuhören scheint.
Hommage an das Ensemble
Doch da ist eine zweite Ebene, die am Ende mehr wiegt: Mentha schafft in seiner Inszenierung für die Mitglieder seines Ensembles – heutige wie ehemalige – noch einmal Raum für einen grossen Auftritt auf dieser ihrer Bühne. Das ist eine starke Geste gegenüber seinen Luzerner Mitstreitern, die in der umkomponierten Schlussszene gipfelt. Hier bieten die Protagonisten bei Rossini ursprünglich Lieder aus ihren Herkunftsländern dar; stattdessen hat Howard Arman, der Musikdirektor des Theaters und musikalische Leiter der «Viaggio»-Produktion, das Finale neu gestaltet: mit Liedern aus der Heimat jedes Einzelnen der Luzerner Sänger. Und auch wenn diese Szene vor der Schlussarie Corrinas (von Jutta Maria Böhnert warm und klangvoll gesungen) ein bisschen lang gerät: Spielerisch und wie nebenbei hat sich Rossinis bunt gemischte Europäer-Schar hier in das beliebte Luzerner Ensemble zurückverwandelt, das mit seinem Publikum Abschied feiert.
Howard Arman prägt die Produktion entscheidend mit, und zwar nicht nur mit der Neugestaltung des Finales und als Dirigent des Luzerner Sinfonieorchesters. Er hat auch die Original-Instrumentierung bearbeitet und das Orchester dabei zu einer Art Zirkuskapelle umgedeutet. Deren Musik ist frech und gewitzt, manchmal schrill und scheppernd, immer spritzig – mit diesen Klängen im Ohr bleibt die Erinnerung an eine eigenwillige Inszenierung.
«Gedächtnis, Innovation und Unterhaltung»
wdh. ⋅ Wenn Dominique Mentha seine Intendanz am Luzerner Theater in diesem Sommer nach zwölf Jahren beendet, hinterlässt er ein lebendiges, gut aufgestelltes Haus, das mit seinen abwechslungsreichen und zum Teil ausgesprochen mutigen Saisonprogrammen ein treues Publikum gefunden hat und somit fest in der Stadt verankert ist. Auch wenn sich der langgehegte Traum von einem neuen Theaterbau während Menthas Amtszeit nicht verwirklichte, wurden die Lust am Wagnis und ein gewisser Abenteuergeist unter seiner Ägide stets hochgehalten. Die Berufung des Enfant terrible Benedikt von Peter zum Nachfolger Menthas macht deutlich, dass man in Luzern auf diesem Weg des Experiments weitergehen will.
Bevor das neue Team im Herbst antritt, darf man jetzt noch einmal in Erinnerungen schwelgen. Im Verlag Theater der Zeit ist dieser Tage ein umfangreiches Buch über das Theaterschaffen Dominique Menthas in Luzern sowie an seinen früheren Wirkungsstätten Innsbruck und Wien erschienen. Theater sei «Gedächtnis, Innovation und Unterhaltung», hat Mentha einmal als Leitsatz seiner Arbeit definiert; Texte und Gespräche seiner vielen künstlerischen Weggefährten beleuchten, wie vielgestaltig er dieses Motto auf der Bühne zum Leben erweckt hat.
Harald Müller u. a. (Hrsg.): Dominique Mentha – Eine Spurensuche. Theaterarbeit in Luzern, Wien, Innsbruck. Theater der Zeit, Berlin 2016, 224 S., zahlreiche Abb., Fr. 28.90.